Diesmal:
Meinen Mitmenschen als unergründliches Geheimnis achten
Wir setzen viel daran, einander kennenzulernen. Doch kennen wir uns wirklich so sehr, dass das Verhalten des anderen vollständig vorhersehbar wäre? Bloß nicht.
Eine achtungsvolle Haltung vor dem Geheimnisvollem unserer Mitmenschen tut uns und unseren Beziehungen gut.
Lassen Sie den folgenden Text von Max Frisch auf sich wirken und beobachten Sie, inwieweit Ihnen die beschriebene Ge-fahr bekannt vorkommt:
„... nicht weil wir das andere kennen, geht unsere Liebe zu Ende, sondern umgekehrt: weil unsere Liebe zu Ende geht, weil ihre Kraft sich erschöpft hat, darum ist der Mensch fertig für uns....
Wir künden ihm die Bereitschaft auf, weitere Verwand-lungen einzugehen. Wir verweigern ihm den Anspruch auf alles Lebendige, das unfassbar bleibt, und zugleich sind wir ver-wundert und
enttäuscht, dass unser Verhältnis nicht mehr lebendig sei.“
„Du bist nicht", sagte der Enttäuschte oder die Enttäuschte: „wofür ich Dich gehalten habe." Und wofür hat man sich denn gehalten?
Für ein Geheimnis, das der Mensch ja immerhin ist, ein erregendes Rätsel, das aus-zuhalten wir müde geworden sind. Man macht sich ein Bildnis. Das ist das Lieblose, der Verrat.... Du sollst dir
kein Bildnis machen, heißt es von Gott. Es dürfte auch in diesem Sinne gelten: Gott als das Lebendige in jedem Menschen, das, was nicht er-fassbar ist. Es ist eine Versündigung, die wir, so wie
sie an uns begangen wird, fast ohne Unterlass wieder begehen - ausgenommen wenn wir lieben.“
Beobachten Sie, wie Sie die folgenden Gedanken im Hinblick auf einen Ihnen nahestehenden Menschen nachvollziehen können:
• Trotz mancher Entdeckungen - du bist und bleibst für mich ein unergründliches Geheimnis. Das ist gut so.
• Wenn du etwas von dir zeigen willst, werde ich dem mit großer Achtung und Ehrfurcht begegnen. Dazu gehört, es nur als einen kleinen Ausschnitt deiner vielfältigen Person
anzusehen.
„Einem Menschen begegnen heißt, von einem Rätsel wachgehalten zu werden.“
Emmanuel Levinas